Gleichmacherei

Ich bin grundsätzlich sehr davon überzeugt, von Unterschiedlichkeit zwischen Personen auszugehen, sie anzustreben und als gesellschaftliche Ressource zu verstehen; davon, dass Menschen in Gruppen unterschiedliche Rollen haben; davon, dass Beziehungen asymmetrisch sind und sich wandeln. Ich habe aber zunehmend das Gefühl, dass diese Überzeugung von mir und anderen und allgemein gesamtgesellschaftlich und in emanzipatorischen Kreisen genutzt wird, um Machtverhältnisse leichter verdaulich zu machen und unterschiedliche Zugänge zu Ressourcen zu festigen. Daher tendiere ich dazu, zumindest als Zwischenschritt Strukturen und Prozesse einzusetzen, die dazu anregen bzw. teilweise erzwingen, dass alle auf gleiche Art beteiligt sind; die nicht auf Freiwilligkeit und Eigeninitiative basieren. Im Einzelnen sind diese Regelungen glaube ich recht bekannt und gut verstanden, aber zusammen ergeben sie für mich ein Muster, das mich zweifeln lässt wie viel auf Unterschiedlichkeiten eingehen ich eigentlich sinnvoll finde.

In selbstorganisierten Gruppen ist es meiner Erfahrung nach üblich, dass es kaum formale Regelungen dafür gibt, wie und auf welche Art alle sich beteiligen. Manchmal ist die regelmäßige Teilnahme am Plenum oder vielleicht die Mitarbeit in einer Arbeitsgruppe verpflichtend. Wer wie viel redet wird vielleicht mit Redeliste und Moderation in einem gewissen Rahmen gehalten. Als Gegenbeispiel kenne ich in Plena sogenannte »Runden«, bei denen alle dazu angehalten sind, etwas zu einem Thema oder einer Frage zu sagen (idealerweise haben dabei langsamere Menschen genug Zeit zum Denken und Reden, und dominantere werden durch eine gewisse zeitliche und thematische Vorgabe begrenzt).

Bei Selbstorganisierung werden anstehende Aufgaben oft freiwillig übernommen. Bei Aufgaben die als schwierig, wichtig oder voraussetzungsvoll angesehen werden heißt das meistens, dass sie von denen gemacht werden, die sich mit dem Thema schon auskennen oder beschäftigt haben, die Zeit haben, die sich die Aufgabe unmittelbar zutrauen zu übernehmen, die die nötigen Kontakte haben. Andere Aufgaben werden dann von denen erledigt, die sich die »schwierigen/wichtigen« Aufgaben nicht zutrauen, die ein schlechtes Gewissen haben, die darunter leiden würden wenn etwas nicht passieren würde, die es für selbstverständlich halten, anstehende Aufgaben zu erledigen. Diese Verteilung reproduziert sich selbst, denn wer sich mit einem Thema beschäftigt, findet in diesem Bereich immer wieder neue Aufgaben und ist dank gesammelter Erfahrung und Selbstvertrauen auch immer wieder die geeignetste Person, diese zu erledigen.

Dieses Muster ist schlecht für Gruppen: Es konzentriert Wissen und Erfahrung in Einzelnen, die schwer ersetzbar werden; Es erschwert das Entstehen gemeinsamer Vorstellungen in der Gruppe, da Erfahrungen und Zugänge zu Fragestellungen unterschiedlich und auf Einzelne beschränkt bleiben. Es ist auch schlecht für Einzelpersonen, da sie über Gruppen hinweg immer wieder in den selben Rollen landen und keine Erfahrungen und kein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sammeln können. Zuletzt ist es auch gesamtgesellschaftlich schädlich, da es Expert_innentum und darausfolgend Expert_innenlösungen produziert.

Dabei gibt es noch ein paar spannende Details, die selbst bei irgendwie »gleicher« Verteilung Unterschiede reproduzieren, weil sie Ungleiches gleich erscheinen lassen. Zum Beispiel könnte eine Gruppe gemeinsam eine Aufgabe übernehmen, aber die Unteraufgaben wieder unterschiedlich verteilen. Oder immer die selben machen eine neue Aufgabe am Anfang, und immer die selben übernehmen sie dann, werden eingewiesen und machen sie wie vorgegeben weiter. Oder Menschen übernehmen eine Aufgabe immer in einem bestimmten Kontext, zum Beispiel in dem sie nur sonntags kochen oder nur die Vollversammlung moderieren.

In Lebensgemeinschaften, Familien, WGs, gemeinsamen Haushalten versuchen Leute häufig bewusst, Aufgaben nach einem gewissen Schlüssel zu verteilen. Oft streben sie eine Gleichverteilung der Belastung an, die sie über die Zeitdauer, die etwas braucht, messen – oder realistischerweise: schätzen. Dabei fällt zum Beispiel unter den Tisch, wie viel Arbeit es macht, anstehende Aufgaben im Kopf zu behalten, Unerledigtes wahrzunehmen oder in Bereitschaft zu sein. Auch, wie anstrengend oder regenerierend Tätigkeiten jeweils sind, wird beim Vergleich über die Zeitdauer nicht berücksichtigt. Es gibt einen sehr großartigen Comic von Emma dazu: »You should have asked«. In der Ausgabe der an.schläge ist der Artikel »Fingernägel & Mental Load – Die neuen Väter sind oft auch nicht besser.« von Lea Susemichel abgedruckt, der diesen Umstand auch gut beschreibt. Auch diese Verhältnisse lassen sich glaube ich nicht durch frei(willig)e Verteilung von Aufgaben verändern.

Sich um eine andere Person direkt kümmern machen Menschen auch unterschiedlich viel, und dass das tendenziell nicht zufällig verteilt sondern zum Beispiel geschlechtsspezifisch ist sollte klar sein. Auch hierbei reicht es meiner Meinung nach aber nicht, Fürsorge irgendwie mengenmäßig zu betrachten. Eine Person kann sich zum Beispiel sehr viel um andere kümmern, aber sich dabei auf Menschen die neu in ihrem Leben sind konzentrieren; oder die Menschen denen es gerade gut geht; oder die Menschen denen es gerade schlecht geht. Diese Verhaltensweisen tendieren alle dazu, unausgewogene Beziehungen zu produzieren. Menschen können sich auch im Alltag sehr großartig um Andere kümmern, aber in Krisen immer von den Anderen erwarten, dass sie die Situation auflösen. Und es gibt auch wieder mehr und weniger wahrnehmbare Arten, für andere Menschen emotional zu sorgen: Ständig andere mitdenken ist sehr anstrengend, wirkt aber nicht wie Arbeit. Ein intensives Gespräch über die Probleme einer Person führen bleibt in Erinnerung, auch wenn es nur kurze Zeit Arbeit bedeutet. Ich habe noch keine Idee, durch was für Strukturen sich solche Verhältnisse aufbrechen lassen.

Karl Marx schrieb: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Das ist immer noch meine Utopie, aber was Menschen an Fähigkeiten erwerben, was sie für ihre Bedürfnisse halten und wie viel Komfort sie erwarten ist nicht zufällig verteilt. Da gibt es viel zu v_erlernen und viele Gewohnheiten aufzubrechen.

Was für gleichmachende Regelungen benutzt ihr so (nicht)? Kennt ihr gute Texte oder Vorträge, die sich mit diesem Zwiespalt auseinandersetzen?

Eine Antwort auf „Gleichmacherei“

  1. Gelesen. Drüber nachgedacht. Impulsive Reaktionen gehabt. Keine Zeit, die eigene Position in Text umzusetzen gefunden.

    Der Beitrag hat mich wieder mal hauptsächliche über die eigene Situation/Position nachdenken lassen. Mein Gefühl sagt, dass ich mich oft in einer ähnlichen Situation, wie der von dir beschriebenen wiederfinde – jedenfalls was Dinge im Haushalt oder noch schlimmer alles in Bezug auf Informationstechnik (gar Datenschutz) angeht. Umgekehrt ist es dann beim Bereich der Fürsorge – durch Stillen und 40-Stunden-Woche gibt es eine ziemliche Ungleichheit.
    Allerdings sollte *eigentlich* der Unterschied offensichtlich sein, von der Reduzierung auf Quantität abgesehen: der technische Bereich ist meist sehr voraussetzungsvoll und eine „gute“ Entscheidung erfordert Auseinandersetzung bzw. zunächst Rezeption von schnöder Theorie. Dieses Übel muss nicht alle ereilen. In den anderen Bereichen geht es vielleicht oftmals um praktisches Wissen.

    Nun aber zu deinem und zwei Dingen, die mir daran aufgefallen sind:

    > Bei Selbstorganisierung werden anstehende Aufgaben oft freiwillig übernommen. Bei Aufgaben die als schwierig, wichtig oder voraussetzungsvoll angesehen werden heißt das meistens, dass sie von denen gemacht werden, die sich mit dem Thema schon auskennen oder beschäftigt haben, die Zeit haben, die sich die Aufgabe unmittelbar zutrauen zu übernehmen, die die nötigen Kontakte haben.

    Zwischen dem ersten und dem zweiten Satz gibt es für mich eine logische Lücke. Wie ist „freiwillig“ definiert, wenn die Auswahl aufgrund der im zweiten Satz genannten Bedingungen praktisch zwangsläufig getroffen wird?
    Was passiert dazwischen und vor allem spielt dabei die Kommunikation?
    Wie gesagt – ich erlebe das Problem häufig und wenn ich eine Lösung suche, würde ich bei der Kommunikation als erstes schauen.

    > Dabei fällt zum Beispiel unter den Tisch, wie viel Arbeit es macht, anstehende Aufgaben im Kopf zu behalten, Unerledigtes wahrzunehmen oder in Bereitschaft zu sein.
    Im Fall meiner unmittelbaren Erfahrung gibt es hier sehr große subjektive Unterschiede. Vor allem bin ich geneigt zu sagen, dass es eine Entscheidung ist, besonders viele oder schwere Dinge im Kopf behalten zu müssen, und zwar eine Entscheidung dagegen sie zu delegieren oder in ein Managementsystem (und sei es eine Liste auf einem Zettel) zu überführen. Natürlich, es ist anzunehmen, dass der Grad von „praktischem Wissen“ gegenüber „theoretischem/systematisierbaren Wissen“ mit dem Grad von „im eigenen Gefühlszusammenhang selber machen müssen“ und „nach außen geben” korrespondiert und natürlich, die soziale Prägung zum einen oder anderen verhalten ist geschlechterspezifisch verteilt.

    Leider weiß ich auf deine konkreten Fragen nach Literatur keine konkrete Antwort. Kommunikation und Management klingen beide so letztes Jahrhundert und sehr wenig selbstorganisiert. Oder?
    Ich frage mich manchmal, was eigentlich aus der ganzen anarchistischen Theorie über diese beiden Bereiche geworden ist. Habe ich die nur aus dem Blick verloren oder gibt es die nicht mehr und auch ansonsten nur noch David Graeber?

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