In der ersten Hälfte des laufenden Jahres 2010 fand eine intensive Auseinandersetzung um Datenschutz, soziale Netze, Privacy und Postprivacy statt. Der folgende Text betrachtet Argumente von Datenschützer_innen im Hinblick auf eine gesamtgesellschaftliche, emanzipatorische Perspektive.
Die Angst vor dem Raster
Der große Saal des BCC platzt am Vormittag des 27. Dezember 2009 aus allen Nähten. Über 1000 Menschen – Nerds, Pressevertreter_innen, Hacker_innen, Chaot_innen – drängen sich vor der riesigen Bühne, unzählige weitere verfolgen das Geschehen übers Internet oder werden später Aufnahmen sehen. Frank Rieger spricht an diesem Tag nicht nur für den CCC, sondern gefühlt für die technische Elite einer ganzen Generation. In seinem einstündigen Vortrag ebenso wie in dem später veröffentlichten Text „Der Mensch wird zum Datensatz“ wird Rieger neben Gemeinschafts- und Kampfgeist vor allem eines beschwören: Angst. Die Angst vor einem allumfassenden, gierigen System, das jeden Menschen nach Merkmalen und Eigenschaften erfasst und kategorisiert, ihn „wie ein Ding“ behandelt und schließlich „zu einem Datensatz“ macht. Die Angst vor dem „absolut Bösen“.
Im einzelnen bezeichnet Rieger drei Bedrohungen: Die erste sind Statistiken, aus denen wahrscheinlichkeitsbasiert falsche, normierende oder präventive Rückschlüsse auf Individuen gezogen werden. Als nächstes warnt Rieger vor einer totalen Ahndbarkeit jeglicher Rechtsnormübertretungen und einer „softwaregestützten Durchregelung des Alltags“. Schließlich warnt Rieger vor der Bedrohung der moralischen und sozialen Normen der Gesellschaft durch totale Offenheit.
Datenbanken und darauf basierende Auswertungen stehen im Fokus der Kritik Riegers. Diese würden „einzigartige Menschenwesen“ in Merkmalssätze zerlegen, kategorisieren und charakterisieren. So könnte die Kündigungswahrscheinlichkeit von Mitarbeiter_innen ebenso wie der Unterschied zu einem „Straftäter_innen-Profil“ berechnet werden. Was Rieger zu recht kritisiert, ist die „weiche“ Konstruktion von Identitäten durch statistische Auswertung: Eine Person sollte nicht aufgrund der Wohngegend zu Vorkasse gezwungen oder wegen bestimmter wissenschaftlicher und politischer Interessen als Tatverdächtige behandelt werden. Was Rieger jedoch übersieht, ist, dass Identitätskonstruktion keine Neuerung aus der Zeit von Datenbanken, Scoring und Rasterfahndung ist – die bürgerliche Gesellschaft sortiert schon immer nach „harten“ oberflächlichen Kriterien wie Klasse, Geschlecht oder Rasse. Das humanistische Privileg, als „einzigartiges Menschenwesen“ sichtbar zu sein, überhaupt als Individuum in der Gesellschaft agieren zu können, war niemals ein allgemeines und ist auch heute für weite Teile der Gesellschaft nicht zugänglich. Rieger kritisiert die gesellschaftliche Konstruktion von Gruppenidentitäten jedoch nicht allgemein, sondern nur insofern sie gesellschaftliche Schichten betrifft, die sich bisher vor solchen Zuschreibungen sicher wähnte.
Weiter warnt Rieger vor einer „softwaregestützten Durchregelung des Alltags“ und einer totalen, automatischen Ahndung von Rechtsbrüchen. Einerseits nennt er hier das niederländische „Projekt Gegenwirken“, eine Maßnahme gegen lediglich den Indizien nach Verdächtige, die entsprechenden Personen „alle kleinen Unannehmlichkeiten“ der staatlichen Bürokratie zumutet. Weiter befürchtet er eine Einengung des „menschlichen Ermessensspielraums“ durch softwaregestützte Verwaltung. Diesen „menschlichen Ermessensspielraum“ überhaupt genießen zu können ist aber wiederum ein Privileg, das hauptsächlich aufgrund „harter“ Strukturkategorien verliehen wird oder eben nicht. Für andere manifestiert sich dieser „Ermessensspielraum“ in willkürlichen Personenkontrollen, bei der Wohnungssuche oder auf dem Arbeitsamt. Die riesige Anzahl von knapp 200.000 Hartz-4-Klagen im Jahr 2009 hat ihre Ursache wohl kaum in der technischen „Durchregelung“ des Behördenalltags, sondern sind vielmehr auf ebenjenen „menschlichen Ermessensspielraum“ zurückzuführen, den Rieger aus seiner privilegierten Position heraus als positiv wahrnimmt. Das „Projekt Gegenwirken“ ist für Millionen Menschen in dieser Gesellschaft Realität – ohne jedes technische System.
Es ist jedoch keinesfalls so, dass im Umkehrschluss jede technische Entwicklung zu befürworten ist. Ebenso verfehlt sind Gedankenspiele über eine allwissende Totalität, die technokratisch-gerecht jedes Vergehen ohne Ansehen von Klasse oder Herkunft sanktioniert, die den Kokain-Dealer aus der Edeldisko ebenso belangt wie den kleinen Gras-Händler in der Hasenheide. Aus emanzipatorischer, Recht und Norm in Gänze oder in Einzelfällen ablehnender Perspektive kann die Beseitigung rechts- und normfreier Räume, und seien sie noch so ungerecht verteilt, kein Ziel sein – nicht die Gleichverteilung, sondern der Abbau von Herrschaft und Kontrolle ist anzustreben. Aber auch eine bürgerliche Gesellschaft ist mit einer totalitären, zentralen Kontrollinstanz nicht vereinbar, denn die demokratische Aushandlung von Widersprüchen ist auf Freiräume angewiesen, in denen frei von moralischer und rechtlicher Kontrolle zuerst einmal Neues ausprobiert, oder bis zur gesellschaftlichen Akzeptanz auch gelebt werden kann. Mit einer technischen Totalität ist nicht zu rechnen – vielmehr werden technische Systeme immer in einem komplexen System gemeinsam mit Menschen agieren. In diesen heterogenen Beziehungen entfaltet Technik, wenn sie auf bestehende Machtverhältnisse trifft, ihr negatives Potential: Wo Google Buzz Wohnadressen an gewalttätige Ex-Ehemänner weitergibt, wo das Berliner Gewerberegister mit Adressdaten von Prostituierten veröffentlicht wird, wo Polizeidatenbanken helfen, Sportfans und politische Aktivist_innen präventiv auszusortieren – dort werden Daten zu einem Problem, und Datenschutz zu einem emanzipatorischen Ziel.
Von guter und schlechter Öffentlichkeit
Wo sich die Datenschutzbewegung an Privatpersonen als Akteure richtet, offenbart sie einen paternalistischen und repressiven Charakter. Anstatt die Gesellschaft an den artikulierten persönlichen Bedürfnissen nach Kommunikation und Selbstdarstellung zu messen und sie diesen Bedürfnissen entsprechend zu gestalten, wird die Ursache für Probleme nicht in der Gesellschaft, sondern bei den Bedürfnissen der Menschen gesehen. Diese Fokussierung auf eine Auflösung von Widersprüchen durch Unterdrückung von Bedürfnissen wird dadurch gefördert, dass teilweise die Bedürfnisse selbst von Seiten der Datenschutzbewegung abgelehnt werden. Dieser Ablehnung liegt eine Aufteilung in „gute“ und „schlechte“ Öffentlichkeit zugrunde. Eine solche Bewertung kann, wie Jürgen Geuter darlegt, anhand konkreter sozialer Netze erfolgen oder danach, ob die Information bzw. Selbstdarstellung als persönlich, politisch oder wirtschaftlich charakterisiert wird. Auf der Seite „guter“ Kommunikation steht die zielgerichtete, bewusste Selbstinszenierung, als „schlecht“ wird die spontane, persönliche, ohne ein Zielbewusstsein stattfindende Kommunikation betrachtet.
Auch auf Empfangsseite gibt es eine Aufteilung in gute und schlechte Kommunikation: Je privater die empfangende Entität ist, desto größer ist das Bemühen der Datenschützer, unbefugten Zugriff von ihr zu verhindern. Während kaum eine Facebook-Kritik ohne das Beispiel einer problematischen Eltern-Kind-Beziehung auskommt, wird am anderen Ende staatlicher, direkter Zugriff auf Daten bestenfalls hin und wieder problematisiert. Dass jede Datensammlung über Zugriffskontrollmechanismen hinweg mit hinreichendem Aufwand erstellt werden kann, wird dabei ignoriert. Eine Position, die lediglich die aufwandslose Datensammlung kritisiert, also für Ausschlüsse auf Basis von technischer Ausstattung oder Wissen arbeitet, ist geradezu grotesk antiemanzipativ. Andersherum müsste vielmehr, gerade weil Datenabruf aus einer machtvollen Position immer möglich ist, für den Abbau von Zugriffshürden und damit für eine Demokratisierung von Daten gekämpft werden.
Weitere Links
- Christian: „How Your Race Affects The Messages You Get“ auf OkTrends: OkTrends bringt hervorragende Beispiele, was mit großen Datenmengen machbar ist.
- Christian Heller: „Die Ideologie Datenschutz“ auf carta: Christian nähert sich Frank Riegers Datenschutzposition aus der Sicht seiner Post-Privacy-Ideologie, spricht dabei aber viele wichtige Punkte im Hinblick auf Argumentation und emanzipative Perspektive von Datenschutz an.
- Adrian Heine: „26c3 – Here be Dragons“ in Adrians Blog: Ich setze mich ein erstes Mal mit Frank Riegers Keynote auseinander.
- Danah Boyd: „Facebook and ‘radical transparency’ (a rant)“: Danah Boyd schreibt über Facebook und kommt mit einigen ähnlichen Argumenten zu einem ganz anderen Ergebnis als ich.
- Alex Demirovic: „Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich“: Alex Demirovic beschreibt die Zusammenhänge zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre in einer bürgerlichen Gesellschaft in einem hervorragenden Text.
Wie du sehr gut eingeleitet hast, geschieht der erste große Schritt von der emanzipativen Bewegung weg durch gemeinschaftlichen Kampfgeist, der mit Vorliebe oder nahezu ausschließlich in Abgrenzung zu anderen und dem entsprechende Angst beschworen wird.
Mit diesem Gedanken (und wahrscheinlich auch den Nachwirkungen des montagabendlichen Nietzsche-Seminars) im Hinterkopf stolpere ich ein wenig dabei, dir bei folgenden Worten zu folgen:
Emanzipation kann natürlich nicht durch gesellschaftlichen Druck verordnet werden, die Beziehung ist an dieser Stelle aber deutlich mehrgleisig und verläuft dabei nicht diametral zwischen den Bedürfnissen des Individuums und den gesellschaftlichen Bedingungen.
Bedingungen sind zunächst beide für einander. Ohne die persönlichen Äußerungen anderer käme kein Bild von gesellschaftlichen Notwendigkeiten zu Stande (und durch diese Übersetzung könnte es auch ganz falsch oder verzerrt sein, etwa von Angst – s.o.) und die Äußerungen richten sich wiederum nach den gesellschaftlichen Möglichkeiten, die als gegeben gesehen werden (in unterschiedlichem Maße, je nach Verständnis von Emanzipation). Dazwischen ist in diesem Fall allerdings noch die Technik, die dem „Nutzer“ schließlich suggeriert, dass er das Bedürfnis hat, sich über bestimmte Dinge zu äußern. Auch sie ist bidirektional mit beiden anderen Momenten verknüpft.
Nun hätte man eigentlich erwarten sollen, dass in einem technophilen Spektrum wie dem CCC gerade der letztgenannte Bereich beackert wird. Das dies nicht der Fall ist, scheint mir zunächst nur den Schluss zuzulassen, dass man aktiv verdrängt, was du oben ausgeführt hast: Die Techniker unterstützen den extrinsischen Druck auf das Individuum, um sich selbst in eine privilegierte Stellung zu bringen. Sie, die angeblich die Gesetze der Technikwelt verstehen, da sie selbst vollstrecken, fordern Gehorsam ein, um sich selbst nach unten hin abgrenzen zu können.
Sie emanzipieren sich bedingt selbst durch die Regulierung anderer.
Eine emanzipatorische Technik kann somit weder in einem vollkommenen und zuvorkommendem Design noch in absoluter Kontrolle und manueller Bedienung liegen.
Die Suche nach Emanzipation kann schließlich selbst doch wieder als Aufforderung an die in der Bedürfnisfindung [sic] begriffenen Individuen gesehen werden. Damit ist auch das Individuum Ort der Problemsuche, aber es steht nicht in einem kantischen Sinne der Autonomie in der Verantwortung, sondern muss neben den gesellschaftlichen und technischen Objekten wahrgenommen und bis zur Reife beschienen werden.
Bitte entschuldige, falls ich meine gedankliche Baggerschaufel erneut über deinem Blog ausgekippt habe. Ich versuche nirgendwo draufzutreten und versuche bald eine neue Schaufel vorbeizubringen, okay?
Ist genau richtig, was du schreibst; die Bedürfnisse der Individuen taugen nicht als absoluter Imperativ. Mehr Beachtung als der paternalistische Datenschutz ihnen schenkt haben sie aber durchaus verdient.