Lesenotizen zu »France’s War in the Sahel and the Evolution of Counter-Insurgency Doctrine«

Ich hab heute via ACOUP Michael Shurkins »France’s War in the Sahel and the Evolution of Counter-Insurgency Doctrine« gelesen. Es handelt sich dabei um einen längeren Artikel zu französischen und allgemein westlichen Militäreinsatzen in spät- und postkolonialer Zeit anhand eines aktuellen Einsatzes in Zentralafrika aus Sicht eines bürgerlichen Politikwissenschaftlers. Meine (nicht erschöpfenden) Lesenotizen sind dabei so umfangreich geworden dass ich sie schnell hier veröffentliche. Am Ende kommen noch kurz ein paar Gedanken von mir dazu.

Die (spät-)koloniale »Counter-Insurgence«-Doktrin (COIN) hatte als Ziel, die eigene Position und Legitimität zu festigen, in dem der Ausgangszustand als problematisch betrachtet wurde und durch nicht rein-militärische Maßnahmen verändert werden sollte. Post-koloniale Interventionen sind demgegenüber davon geprägt, einen bestimmten Zustand durch minimale, hauptsächlich militärische Eingriffe wieder herzustellen.

Die erste Generation von COIN bestand darin, den Fokus von Armeen und Schlachten auf Bevölkerung zu legen, durch Razzien (Terror-Unternehmen gegen die Zivilbevölkerung) und Bureaux Arabes (Lokal verankerte Militärpolizeien). Die zweite Generation legte zumindest rhetorisch starken Fokus auf den (Wieder-)Aufbau und entwickelte das Konzept der Oil Spots, Bereiche die als erstes gesichert und stark zivil aufgebaut, militärisch verteidigt und geheimdienstlich überwacht werden. Durch mangelnde Ressourcenzuteilung mussten COIN-Operationen und allgemein Operationen in den Kolonien mit wenigen, leichten Truppen arbeiten, viele lokale Kräfte einbinden und gegeneinander ausspielen und wenig erfahrenen Offizieren weitgehend freie Hand zur Erreichung ihrer Ziele lassen.

In der dritten Generation (hauptsächlich Indochina-Krieg) war dieser Widerspruch zwischen wenigen Ressourcen (durch mangelnde politische Unterstützung) aber großen (militärischen) Zielen am deutlichsten. Irreguläre Truppen wurden umfangreich eingesetzt. Es bestand Unklarheit in den Zielen: Dienten die Kriege der Erhaltung des Kolonialreiches oder der Entwicklung formal unabhängiger nicht-kommunistischer postkolonialer Staaten? Außerdem gab es Uneinigkeit ob strategisch militärische Sicherheit oder ideologische Beeinflussung der Zivilbevölkerung im Vordergrund stehen sollte. Beide Seiten der Debatte waren sich aber einig, dass den Aufständischen teilweise entgegengekommen werden sollte, auf der einen Seite durch Nachahmung ihrer militärisch-zivilen Organisationsform, auf der anderen durch politische Reformen; keinesfalls jedoch sollte Macht abgegeben werden. Im Algerienkrieg wurden »sections administratives spécialisées« eingesetzt, wiederum eine lokal verankerte Militärpolizei die Lücken in der Kolonialverwaltung füllen sollte. Der Widerspruch zwischen den »Kämpferischen« und den »Psychologischen« war noch präsenter. Der Algerienkrieg endete mit der politischen Entscheidung Frankreichs, sich trotz militärischen Erfolgs zurückzuziehen – wieder der Widerspruch zwischen politischen und militärischen Zielen. In diesen letzten Kolonialkriegen wurden lokale Kollaborateure nach dem Rückzug der Kolonialmacht ihrem Schicksal überlassen.

Die moderne französische Militärführung besteht aufgrund dieser Erfahrungen darauf, militärische mit politischen Zielen in Einklang zu bringen (um entsprechende Ressourcen zu haben). Das Ziel ist meist eine vorgeblich unpolitische (Wieder-)Herstellung oder Stabilisierung einer bestimmten Ordnung. Das Lösen von zugrundeliegenden Konflikten oder das langfristige Verankern werden anderen überlassen. Konflikte werden damit nicht mehr als politisch, sondern als technische Probleme betrachtet, und Interventionen als neutrale Verwaltungsakte.

Weiterhin liegt der Fokus auf der Zivilbevölkerung, dabei wird sich stark auf NGOs und die Arbeit anderer ziviler Akteure gestützt, sowohl im eigentlichen Konflikt als auch beim Füllen von Lücken. Als entscheidend wird nicht die Phase militärischer Auseinandersetzungen, sondern die darauffolgende Stabilisierungsphase betrachtet. Aufständische werden wesentlich dadurch bekämpft, dass ihre Verankerung in der Zivilbevölkerung zerstört wird. Bei militärischen Handlungen wird die Gesamtwirkung, nicht nur die rein militärische, berücksichtigt, und sie sollen möglichst wenig gewalttätig sein. Weiterhin wird die Oil-Spot-Strategie verfolgt, bei der kleine, langsam erweiternde, zivil-militärisch gesicherte Bereiche hergestellt werden und der Rest des Einsatzgebiets von sehr mobilen Einheiten eher militärisch bearbeitet wird.

In Afghanistan hat der Verlust von Soldat_innen im Verlauf des Einsatzes dazu geführt, dass in der Praxis eine wesentlich statischere Strategie mit Befestigungen und Unterstützungseinheiten genutzt wurde. Parallel beschäftigte sich die Militärtheorie damit, Ziel und Umfang von Militäreinsätzen weiter zu begrenzen und sie kategorisch den vor Ort herrschenden Strukturen unterzuordnen. Der Widerspruch, dass die vor Ort herrschenden Strukturen nicht dazu in der Lage sind, zugrundeliegende Konflikte zu lösen – obwohl das als klares Ziel von Operationen gesetzt ist –, wird dabei nicht aufgelöst.

Anmerkungen von mir

Ich hab mich bisher gar nicht mit militärischer Aufstandsbekämpfung beschäftigt. Spannend fand ich wie selbst aus bürgerlicher Sicht Militär, Polizei, Verwaltung und soziale Einrichtungen gleichermaßen Elemente von Aufstandsbekämpfung sind und im Gegenzug die Grenzen zwischen militärischen Gegner_innen und Zivilbevölkerung verwischt werden. Wobei sich das in diesem Fall nur auf Auseinandersetzungen »woanders« bezieht, wo durch die Oil-Spot-Methode zwar punktuell ein zu schützendes Drinnen und ein Draußen, in dem frei militärisch verfahren werden kann, erzeugt wird. Die Sicherheit ist dabei aber eine Illusion, da auch das Drinnen weiterhin Teil des Einsatzgebiets ist und jederzeit ohne große politische Konsequenzen aufgegeben werden kann.

Anders verhält es sich mit Verlusten unter eigenen regulären Soldat_innen, die haben einen starken Einfluss auf die politische Einsatzbereitschaft eines Militärs. Allgemein erscheint mir Militär politisch und industriell weiterhin hochrelevant, in eigentlichen militärischen Auseinandersetzungen aber beeindruckend unfähig. Das ist vielleicht auch vor dem Hintergrund von ACOUPs aktuellen Texten zum Strategiespiel Victoria II, vor allem den darüber wie Krieg sich durch die industrielle Revolution im Vorfeld des Ersten Weltkriegs verändert hat.

Und zuletzt frage ich mich wie Aufstandsbekämpfung im Kernland aussieht und wie dort das Verhältnis zwischen Aufständischen und Zivilbevölkerung aus reaktionärer Sicht aussieht. Passend dazu hab ich mich vor einiger Zeit durch eine Folge des anarchistischen Podcasts Übertage mit dem maoistischen Volkskrieg-Konzept beschäftigt.

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