Seit mittlerweile acht Tagen läuft in Berlin ein »Hungerstreik der letzten Generation« von sieben jungen Menschen. Sie verlangen im Hinblick auf die Klimakrise ein Gespräch mit den Kanzler_innenkandidat_innen der Grünen, SPD und CDU sowie die Einberufung eines Bürger_innenrats nach Bildung einer neuen Bundesregierung. Meiner Meinung nach steht die Aktion in der Tradition von Fridays for Future und Extinction Rebellion und ist aus deren liberaler Perspektive ein logischer nächster Schritt.
In einen Hungerstreik zu treten ist eine sehr spezielle, auf den ersten Blick paradoxe politische Handlung. Zum einen legt sie das eigene Schicksal in die Hände eines Gegenübers, dessen Unfähigkeit oder Unwille zu sinnvollem Handeln meistens der Grund war, überhaupt in den Hungerstreik zu treten. Das eigene Wohlbefinden oder zumindest Überleben muss den Adressat_innen also wichtiger sein als ihre Untätigkeit oder ihr politisches Fehlverhalten. Funktionieren kann das nur, wenn das Gegenüber tatsächlich schon vor der Aktion in irgendeinem Grad zur Fürsorge der Hungerstreikenden verpflichtet war. Je unmittelbarer die Fürsorgepflicht und Herrschaft, und je erbärmlicher der eigene Ausgangszustand, desto einfacher lässt sich der Hungerstreik vermitteln. Wer im Knast verrottet, kann in den Hungerstreik treten – und oft auch wenig anderes tun. Wessen Familienmitglieder abgeschoben werden sollen, kann in den Hungerstreik treten. Wer mit der Umweltpolitik einer Regierung unzufrieden ist, kann auch in den Hungerstreik treten, wird aber deutlich größere Schwierigkeiten bei der Vermittlung haben. Gleichzeitig entsteht so aber auch die Gelegenheit, die Strukturen und Beziehungen mittelbarer Herrschaft ans Licht zu bringen.
Zum anderen ist ein Hungerstreik eine paradoxe politische Handlung, da er im Kern (jenseits der in diesem Fall nicht zu unterschätzenden Logistik, Begleitung und Vorbereitung) eine Nicht-Handlung ist. Er deckt damit auf, dass schon das bloße Mitmachen – auf jeder Ebene – politisch ist. Ein Hungerstreik stellt die grundlegendste Art nicht-endgültiger Gehorsamsverweigerung dar. Es ist auch für fast alle Menschen zugänglich: Nicht zu essen ist das erste Mittel, das ein Mensch erlangt, um willentlich Widerspruch zu äußern, und oft auch das letzte, das verbleibt. In einer Gesellschaft, in der funktionieren und produzieren an oberster Stelle stehen, bleibt ein Hungerstreik aber nicht bloß Widerspruch, sondern ist praktischer Widerstand. Wer sich nicht selbst reproduziert, stört die fragilen Abläufe der Maschine.
Der »Hungerstreik der letzten Generation« steht aber vor allem in der Tradition der liberalen Klimagerechtigkeitsbewegung: Die Themen, die Sprache und die Menschen sind die selben wie beim Schulstreik von Fridays for Future und beim zivilen Ungehorsam von Extinction Rebellion. Die tiefste Verbindung besteht in Bezug auf die grundlegende politische Taktik die hier zum Einsatz kommt. Als junge Leute 2018 anfingen, nach dem Vorbild Greta Thunbergs ihre Schule, Ausbildung oder Uni zu bestreiken, war dies keine Gehorsamsverweigerung gegenüber diesen Einrichtungen einer Disziplinargesellschaft. Immer wieder hieß es: »Wir wären lieber in der Schule – wenn ihr nur eure Hausaufgaben machen würdet«. Die Streikenden nehmen also eine Last auf sich, einen Nachteil in Kauf. Sie setzen das einzige ein und aufs Spiel, was ihnen zugesprochen wird: Chancen. Perspektive. Potential. Der Schulstreik von Fridays for Future wurde immer in erster Linie aufgefasst und dargestellt als Sabotage der eigenen Zukunft.
Extinction Rebellion macht diese grundlegende politische Taktik zugänglich für weitere Bevölkerungsgruppen, in dem nicht mehr die eigene Zukunft, sondern das individuelle aktuelle Wohlbefinden in die Waagschale geworfen wird. Beispielhaft dafür ist die Idee, möglichst viele Verhaftungen zu provozieren. Zum Teil wird dieser Umstand davon verdeckt, dass Extinction Rebellion die Sprache von Sabotage und Massenbewegung spricht (»fluten«, »blockieren«, »stören«), obwohl es diesen Status nicht erreicht hat. Am Ende spekulieren Fridays for Future und Extinction Rebellion genauso wie der Hungerstreik auf die selbe Sache: Dass die herrschende Gesellschaft es nicht mit ansehen kann, junge Deutsche leiden zu sehen.
Die andere zentrale Gemeinsamkeit dieser verschiedenen Akteur_innen ist ihr unmittelbares Ziel. Nahezu deckungsgleich versuchen sie, die liberale Öffentlichkeit und die Organe der repräsentativen Demokratie auf die Klimakrise hinzuweisen und fordern einen (meistens unspezifizierten) angemessenen Umgang damit. Die Medien sollen »die Wahrheit« berichten, Politiker_innen sollen »zuhören« und »handeln«. Diesen Forderungen liegt die Idee zugrunde, dass Regierungen und Parlamente sich im wesentlichen nach den objektiven, bekannten Tatsachen richten. Wo sie das nicht ausreichend tun fehlt es nach dieser Idee also an der allgemeinen Bekanntheit der Fakten, maximal braucht es vielleicht eine Prise Druck von der Straße um Trägheit und Wirtschaftslobby zu überwinden. Dass sich nach Jahren wöchentlicher, teilweise riesiger Demonstrationen und einer erdrückenden, allseits bekannten Faktenlage noch kein adäquates Regiertwerden eingestellt hat, lässt sich aus dieser Sicht schwer erklären.
Es herrscht Fassungslosigkeit. Gleichzeitig erinnert uns der Liberalismus Tag für Tag auf allen Kanälen, dass in erster Linie die eigene Anstrengung den individuellen Erfolg bestimmt. Unsere Gesellschaft versteht sich als eine, in der – nicht zuletzt politisch – alles erreichen kann, wer sich nur anstrengt. Im Umkehrschluss hat dann, wer keinen Erfolg hat, sich einfach nur nicht genug angestrengt. Auch vor diesem Hintergrund ist ein Hungerstreik eine logische Fortsetzung der an sich erfolgreichen, aber ergebnisarmen Schulstreiks. Er setzt die selbe Ressource – das eigene Wohlbefinden – ein, um denselben Adressat_innen dasselbe abzuringen.
An der Stelle höre ich erstmal auf. Meine weiteren Gedanken zu Hilflosigkeit, repräsentativer Demokratie und verschiedenen Arten politischer Arbeit einerseits sowie Leiden und zivilem Ungehorsam andererseits schreibe ich vielleicht später noch auf.