»Life is Strange« ist ein furchtbares Spiel. Es wird dafür gepriesen, »schwierige« Themen anzusprechen und emotional berührend zu sein. Was dabei unter den Tisch fällt, ist, was das Spiel zu diesen Themen sagt, welche Emotionen es auslöst und wie es mit ihnen umgeht. Weil ich nach rund fünf Jahren beim Gedanken an »Life is Strange« immer noch einen Kloß im Hals habe schreibe ich jetzt nur ein paar einzelne Punkte und dann den Versuch einer Synthese.
Aufklappen für sechseinhalb Punkte zu Life is Strange. Dabei verrate ich selbstverständlich wesentliche Teile der Handlung, in der insbesondere Tod, Selbsttötung, Gewalt, sexualisierte Gewalt und Behindertenfeindlichkeit vorkommen.
Erstens: Sexualisierte Gewalt spielt eine große Rolle, aber »Life is Strange« hat nichts darüber zu sagen. In einer Szene ist die Protagonistin hilflos und das Spiel lässt nur Kamerasteuerung zu. Als Teil der Spielmechanik muss der_die Spieler_in diese Szene auch noch mehrmals durchleben bis sie_er »richtig« handelt und sich nach einiger Spielzeit nochmal in eine Zeitlinie bewegen in der sie_er WIEDER IN DER SELBEN SZENE landet. Die Szene ist furchtbar anzusehen. Das Spiel zwingt uns als aktiv handelnde Person, sie selbst zu produzieren und reproduzieren – das ist schlicht grausam. Und auf diese Grausamkeit folgt – nichts. Ausführlicher dazu: »On Women’s Bodies & Violent Men in the ‘Life Is Strange’ Finale«
Anderthalbst: Der Anfang dieser Szene mit dem Satz »Please, don’t do this.« ist der Cliffhanger zwischen vierter und fünfter Episode.
Zweitens: Von Kate, einer Mitschülerin der Hauptfigur, wird ein Video veröffentlicht, in dem sie unter Drogeneinfluss sexualisiert handelt. Da sie keine Drogen und kein Alkohol konsumiert ist allen offensichtlich dass weder was sie tut noch dass es gefilmt wird mit ihrer Zustimmung passiert – es handelt sich wiederum um sexualisierte Gewalt. Kate ist offensichtlich schwer traumatisiert. Im weiteren Verlauf kann die Hauptfigur Kate mehr oder weniger helfen, in erster Linie trösten. So oder so wird Kate aber einen Selbsttötungsversuch beginnen und der_die Spieler_in kann versuchen, sie durch richtige Dialogoptionen davon abzuhalten. Egal ob das gelingt oder nicht ist dies die erste Stelle im Spiel die sich nicht wiederholen lässt. Im weiteren Verlauf der Handlung macht es auch keinen großen Unterschied, ob Kate tot ist oder nicht. In der letzten Episode des Spiels kann sich der_die Spieler_in weitere Fotos von Kate die sexualisierte Gewalt darstellen angucken. Auch mit der Figur von Kate hat »Life is Strange« nichts mitzuteilen: Ihr Leben oder Tod spielt keine große Rolle. Die Bemühungen des_der Spieler_in vor ihrem Selbsttötungsversuch waren weitgehend nutzlos. Ausgerechnet an einer Stelle wo viele Spieler_innen einen alten Spielstand laden würden funktioniert das Spielmechanik gewordene Laden nicht.Auch die Gelegenheit, die verschiedenen Ebenen sexualisierter Gewalt die Kate erlebt auseinanderzupflücken verstreicht ungenutzt, so dass sogar eine Person die über genau diese Situation schreibt zum Kommentar »There’s life after a bad viral video.« kommt. Mehr zu Kate: »Saving Kate and Saving Myself in Life is Strange« von Holly Green.
Drittens: In einer alternativen Realität in der das Spiel zeitweise nach einer Handlung des_der Spieler_in spielt, ist Chloe, die Freundin der Hauptfigur, vom Hals abwärts gelähmt. Die Episode endet damit dass Chloe um Sterbehilfe bittet und der_die Spieler_in ihrem Wunsch entsprechen kann oder auch nicht – wiederum eine Entscheidung die im Spiel selbst absolut belanglos ist, da danach die alternative Realität wieder durch die eigentliche Zeitlinie ersetzt wird. Eine weitere wertlose, schon im Spiel belanglose Referenz eines »schwierigen« Themas, bestenfalls ohne, schlimmstenfalls mit problematischer Aussage.
Viertens: Das Ende. Nachdem Chloe im Laufe des Spiels schon diverse Male gestorben ist muss der_die Spieler_in sich entscheiden, entweder die Stadt von einer Katastrophe zerstören zu lassen die Chloes Meinung nach irgendwie mit ihr zusammenhängt, oder die erste Aktion des Spiels, nämlich Chloes Leben zu retten, rückgängig zu machen. Letztere Variante ist das ausführlich produzierte Ende, in ersterer fahren die beiden einfach nur weg. Das Ende macht alle vorherigen Handlungen im Spiel sinnlos. Mehr zum Ende: »Twee Nihilism: Thoughts on Life Is Strange Three Years Later« von Ashley Minor.
Fünftens: David, Chloes Stiefvater, ist ein traumatisierter und von Diskriminierung betroffener Kriegsveteran. Er ist misstrauisch und gewalttätig, wird aber trotz dieser Handlungen zunehmend positiv dargestellt und rettet am Ende die Hauptfigur. Mehr zu David und Väterfiguren in Spielen: »Don’t Mention The Bruises«.
Sechstens: Die Hauptfiguren sind junge, queere Frauen. Der Hauptgegner im Spiel ist ein älterer Mann der junge Frauen und Gewalt gegen sie fetischisiert. Das Spiel lässt den_die Spieler_in Gewalt gegen junge Frauen durchleben und macht sie durchs Spielen selbst zu Kompliz_inn_en dieser Gewalt.
Zusammenfassung: »Life is Strange« stellt grausame Gewalt dar. Es gibt sich dabei regelmäßig Mühe, um noch grausamer zu sein. Diese Gewalt wird nicht analytisch, heilend oder sonstwie emanzipatorisch behandelt. Selbstwirksamkeit, Handlungsspielräume, Solidarität und Fürsorge werden aktiv als ergebnislos dargestellt.
»For many, the game is devastating. I know few people who got through Chapter 2 without crying.« – Holly Green
»As much as I love the smaller moments, I’ve also felt unsettled by this episode, almost to the point of putting it down. However, I’ve come to know and care about these characters and that’s what keeps me playing even when horrible things happen to them.« – Kimberley Wallace
Für Menschen, die vergleichbare Gewalt erleben, ist »Life is Strange« eine selbstverletzende Erfahrung. Alles Gute und Positive an Kunst und Gefühlen was durch »Life is Strange« entstanden ist kommt aus den Spieler_innen selbst. Ihnen wird dadurch vermittelt, dass diese traumatisierende »Thematisierung« die einzige und richtige Art der Beschäftigung mit Herrschaftsverhältnissen und Gewalt in Medien ist. Allen anderen bietet »Life is Strange« das beruhigende Gefühl, sich mit dieser Gewalt »beschäftigt« zu haben, und fetischisiert diese gleichzeitig.
»[…] a game that appealed to queer women in a way that few games even try to, but that had left many feeling disappointed through its use of harmful tropes« – Jay Castello
»Life is Strange« wird oft als Gegenthese zu den Allmachtsphantasien anderer Spiele verhandelt. Die emanzipatorische Gegenthese zu individueller Allmacht ist aber nicht individuelle Ohnmacht, sondern Solidarität und kollektive Selbstwirksamkeit.