Ich beschäftige mich seit bald mit einer Idee für eine freie, selbstorganisierte Kennenlern- und Verabredeplattform, also ungefähr das was heutzutage als »Dating App« bezeichnet wird.
Kommerzielle Plattformen
Kommerzielle Datingplattformen haben in erster Linie das Ziel, für ihre Besitzer_innen Gewinn zu erwirtschaften. Bei manchen kostet jede Mitgliedschaft Geld, aber in den meisten Fällen ist die einfache Nutzung kostenfrei. Dafür sind auf solchen Plattformen spezifische Funktionen nicht frei verfügbar, sondern müssen entweder als festes Paket im Abo gekauft werden, oder sogar jede einzelne Benuztung. Allgemein gilt, dass Nutzer_innen möglichst viel auf der Plattform aktiv sein sollen, da sie das angebotene Produkt darstellen. Bei einer klassischen Datingplattform, die überwiegend exklusive Beziehungen vermittelt heißt das übersetzt: die Nutzer_innen sollen eigentlich nicht erfolgreich sein – sonst bräuchten sie die Plattform ja (zumindest für eine Weile) nicht. Das alleine stellt einen deutlichen Interessenskonflikt zwischen den Besitzer_innen und den Nutzer_innen dar.
Die eigentlichen Kund_innen sind nur jene Nutzer_innen, die bezahlen – alle anderen sind bestenfalls potentielle Kundschaft, vor allem aber Produkt. Im Fall von Tinder bringt zum Beispiel nur ein Zehntel der Nutzer_innen Umsatz, und diese sind zu rund 70% Männer. Kund_innen sind selbstverständlich genauso vielfältig wie Nutzer_innen allgemein, aber unter ihnen gibt es zwei kleine, wesentliche Unterkategorien, die ich interessant finde: Whales und Abuser. Whales sind Personen, die sehr viel Geld ausgeben ohne dabei notwendigerweise erfolgreich zu sein. Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Glücksspiel-Bereich, wird aber mittlerweile vor allem auf Nutzer_innen von Apps und Handyspielen angewendet. Dort beschreibt es jene rund 2% aller Nutzer_innen, die monatlich über 100€ ausgeben, teilweise auch viel mehr, und damit den Großteil der Einnahmen vieler Apps darstellen. Richard Garfield, der Erfinder von Magic: The Gathering, hat das Konzept für mich sehr anschaulich in seinem Text »A Game Player’s Manifesto« (leider auf Facebook) beschrieben. Eher auf sozialen Plattformen sind Abuser eine relevante Kund_innenkategorie. Für FetLife beispielsweise hat eine Datenanalyse ergeben, dass unter zahlenden Nutzer_innen ein zehn mal so hoher Anteil als übergriffig bekannt ist wie in der Gesamtmenge der Mitglieder. Anders als Whales sind Abuser eher bereit, Geld auszugeben, weil sie (ihrer Vorstellung nach) erfolgreich sind.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum kommerzielle Datingplattformen so gestaltet sind, wie sie es sind. Die kaufpflichtigen Funktionen sind zu großen Teilen entweder nötig um die langfristige Nutzung überhaupt erst erträglich zu machen (und sollen damit mehr zahlende Kundschaft anlocken), oder sprechen spezifisch Whales oder Abuser an. Die Moderation ist nicht nur kostensparsam, möglichst automatisierbar, zum Beispiel basierend auf Tone policing und Respectability, sondern soll auch so wenig wie möglich zahlende Accounts beeinträchtigen oder verbrennen. Die Sicherheit der Nutzer_innen spielt keine Rolle, jedenfalls definitiv nicht die der Nichtzahlenden.
An kommerziellen Datingplattformen ist für mich aber nicht nur problematisch, dass sie verkaufen, an wen, und wie, sondern auch, was das Produkt ist. Das beste Ergebnis, das bei der Benutzung einer kommerziellen Datingplattform vorgesehen ist, ist ein Match zwischen zwei Profilen. Die Frage, was diese beiden Leute eigentlich miteinander machen wollen, kommt gar nicht oder nur in den gröbsten Kategorien vor. Obwohl der vorgebliche Zweck der Plattformen ist, Menschen dabei zu helfen andere kennenzulernen, lassen sie ihre Nutzer_innen genau an der Stelle alleine, wo aus einem Profil unter vielen ein echter Mensch wird und ein Kennenlernen stattfinden könnte. Hier verrät sich, wie sehr das Matchen, nicht das darauffolgende interagieren, für Plattform-Besitzer_innen (und zunehmend Nutzer_innen) das eigentliche Ziel der Nutzung ist. Funktionieren tut das aber nur, weil alle Beteiligten die Illusion aufrechterhalten, dass es selbstverständlich oder zumindest trivial aushandelbar wäre, was auf ein Matchen folgen könnte – je nach Plattform zum Beispiel spontaner Sex oder Treffen zur Aushandlung romantischer Beziehungen unterschiedlicher Länge. Durch diese implizite Klarheit des Möglichen ersetzt das Matchen emotional für die Nutzer_innen die imaginierte soziale Handlung selbst, und erspart den Plattform-Besitzer_innen die Schmälerung ihres Produkts: Ein Katalog oder Strom gleichförmiger, generischer Einträge, der ein übermäßiges Angebot für eine dürre handvoll Bedürfnisse vortäuscht. Zugrunde liegt eine Normativität, die zwar ggf. verschiedene Stufen auf dem Gradienten zwischen Gelegenheitssex und monogamer Beziehung fürs Leben vorsieht, aber auf jeden Fall nicht davon ausgeht, dass eine Person Beziehungen in verschiedenen Farbtönen sucht.
Kommerzielle Datingplattformen reduzieren den Reichtum und die Vielfalt zwischenmenschlicher Beziehungen auf einen ärmlichen, Relationship-Escalator-kompatiblen Ausschnitt, die Unermesslichkeit sexueller und sozialer Bedürfnisse und geschlechtlicher, kultureller, sozialer Identität auf ein paar Kategorien, um dann aus dieser Gleichförmigkeit heraus die Illusion von Überangebot und (miteinander konkurrierender) Auswahl zu erzeugen (Klassischer Kapitalismus-Move). Plattform-Nutzer_innen wie -Besitzer_innen haben erkannt, dass das reale Kennenlernen gegenüber dem abstrakten Bestätigtwerden zunehmend an Attraktivität verliert. Die zahlende Kundschaft – überwiegend Männer – wird gleichzeitig hofiert, geschützt und verarscht, denn gerade für Hetero-Männer besteht absolut kein Überangebot. Alle anderen müssen sowieso sehen wo sie bleiben. Kommerzielle Datingplattformen sind nicht dafür geeignet und auch nicht dafür gedacht, dass Menschen sich erfolgreich kennenlernen und eine schöne Zeit miteinander verbringen.
Meine Idee
Puh. Soweit zu meiner kurzen, zugespitzten Abrechnung mit kommerziellen Plattformen. Neben dieser Analyse war Captain Awkward eine wesentliche Inspiration für meine Idee. Sie hat in einem Blogpost empfohlen, auf Datingplattformen möglichst spezifisch die gerade gesuchte Beziehung zu beschreiben, statt sich generisch attraktiv darzustellen. Das würde unpassende Personen abschrecken und potentiell passende mehr ansprechen. Mein Gedanke war vor allem, dass dadurch Leute die sich finden auch eher eine Idee haben was sie miteinander anfangen können. Dazu kam in meinem Kopf die oft unter Beziehungsanarchie verhandelte Idee, dass zwischenmenschliche Beziehungen sehr individuell und vielfältig sind und sich im Laufe der Zeit wandeln können, und sich nicht sauber in romantische, sexuelle und freundschaftliche aufteilen lassen.
So stelle ich mir also insgesamt eine Plattform vor, auf der Menschen nach anderen Personen für bestimmte Aktivitäten oder Beziehungen suchen können. Eine Plattform, die nicht unbedingt wachsen oder möglichst viel Zeit ihrer Nutzer_innen fressen will; die die Sicherheit der Nutzer_innen in den Vordergrund stellt. Eine Plattform, die nicht alles auf diesen einen Moment des Matchens setzt und hofft, dass etwas Magisches passiert, sondern Beziehungen, die vor ihr anfingen oder nach ihr weitergehen erwartet und Menschen dazu einlädt, sich mehrmals neu kennenzulernen und zu begegnen.
Um mit Spaß an dieser Plattform zu arbeiten und sie vielleicht sogar irgendwann zu starten suche ich Leute, die mit mir weiter daran forschen, überlegen, planen, gestalten, programmieren, übersetzen oder diskutieren wollen. Im Moment interessiert mich vor allem wie auf dieser Plattform Moderation, Gemeinschaft und Selbstermächtigung interagieren könnten, aber ich beschäftige mich auch mit allen anderen Aspekten. Falls das für euch interessant klingt oder ihr Kommentare, Hinweise oder Überlegungen teilen wollt, schreibt mir gern eine Nachricht oder hier einen öffentlichen Kommentar.
Danke an njan, Maren, Anna und noch eine Person für das gemeinsame Überlegen und Diskutieren zu diesem Thema!